1/2023 Zusammen stark
BAU.WERK
Wie man es dreht und wendet?...
Das «Performative Haus» in Zürich bricht mit Gewohnheiten: kaum rechte Winkel, keine starren Raumnutzungsvorgaben. Dafür Wohnflächen, die sich durch Drehen von Wänden und Schränken mit wenigen Handgriffen verändern lassen. Ein Wohngebäude als Experiment. In Holz gebaut.
Text Susanne Lieber | Fotos Roland Bernath (Bilder 1–3: ©Moyreal Immobilien AG) | Pläne Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten AG
Das Fachinteresse war riesig. Die Neugier auch. Als das Architekturbüro EMI (Edelaar Mosayebi Inderbitzin) im August letzten Jahres zur öffentlichen Besichtigung des ungewöhnlichen Neubaus in der Stampfenbachstrasse einlud, war der Andrang gross. Architekten, Ingenieure, Studenten, Holzbauspezialisten, Journalisten, Nachbarn?… Sie alle schoben sich dicht gedrängt durch den fünfgeschossigen Bau. Innert kürzester Zeit war die Schlange vor dem Gebäudeeingang derart lang, dass sie so manchen Interessierten in die Flucht schlug.
Der Holzbau, an dem nicht nur der Individualverkehr unmittelbar vorbeirauscht, sondern auch Trams Richtung Hauptbahnhof, polarisiert. Schon an der kühl-nüchternen Metallfassade mit vorgehängten Aluminiumpaneelen scheiden sich die Geister. Am konzeptionellen Raumkonzept im Inneren erst recht. Doch warum überhaupt ein Wohnkonzept, das sich nicht auf fest abgesteckte Nutzungsbereiche beschränkt und stattdessen Flexibilität propagiert? Ein Blick auf die Statistik zeigt: Ein Drittel der Bevölkerung Zürichs lebt inzwischen in Single-Haushalten, ein Drittel in Haushalten mit gerade mal zwei Personen. Der Bedarf an kleine(re)n Wohnungen wächst und wächst, wobei die Ansprüche an diese sehr unterschiedlich sind. Trotz eingeschränkter Platzverhältnisse soll dennoch Spielraum für individuelle Lebensentwürfe sein. Und genau hier setzt das Konzept der Architekten an: Auf der Suche nach flexibel gestaltbaren Räumen, die sich schnell und unkompliziert den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner anpassen, entstand das sogenannte performative Haus. Der Begriff ist etwas sperrig, der Duden klärt auf: «Performativität = Hervorbringung neuer Wirklichkeit durch kulturelle Vorgänge und Erscheinungen».
Die Frage, wie qualitativ hochwertiger Raum auf kleiner Fläche entstehen kann, beantworten die Zürcher Gestalter wie folgt: Man löse konventionelle Zimmerstrukturen (weitgehend) auf, indem man feststehende Wände durch Wandscheiben ersetzt, die sich an einem Stahlrohr azentrisch um ihre eigene Achse drehen. Dadurch wird ein Maximum an Flexibilität geschaffen. Wohnbereiche lassen sich mit nur einem Schwenk verkleinern, vergrössern oder einfach umarrangieren. Selbst Stauraum nimmt als mobiles Volumen Einfluss auf den Grundriss. Die verspiegelten Schränke sind ebenfalls als drehbare Elemente definiert. Schlaf- beziehungsweise Sitzpodeste mit integrierten Schubladen und Bodenklappen schaffen zudem eine abwechslungsreiche Topografie, die den Grundriss auch vertikal belebt – und darüber hinaus weiteren Stauraum generiert. Was der Idee der Architekten Rechnung trägt, dass es beim Einzug nicht viel Mobiliar benötigt. Wer will, zieht einfach mit kleinem Gepäck ein.
Das Gebäude umfasst insgesamt 30 Wohnungen, die – mit einer Ausnahme im Erdgeschoss – alle nur zwischen 26 und 54 Quadratmeter gross sind. Im Gegensatz zu den mittleren Regelgeschossen sind im Erd- und im Dachgeschoss die Grundrisse allerdings klassisch aufgeteilt, hier lässt sich also nichts drehen und wenden.
Konstruktive Voraussetzung: Holz
Flexibilität schön und gut. Dafür müssen aber erst einmal die Voraussetzungen geschaffen werden. Vor allem materiell. Holz war hier konkurrenzlos – hinsichtlich des Ausbaus mit «leichtgängigen» Wänden, aber auch der Architektur an sich. Bei dem Gebäude handelt es sich um einen vorfabrizierten Holztafelbau, der auf den Untergeschossen des Vorgängerbaus ruht. Darum bot sich hier Holz als leichtes Baumaterial an. Im Vergleich zum Vorgängerbau konnten so rund 30 Prozent Gewicht eingespart werden. Die Geschossdecken und die Wände bestehen hierbei grösstenteils aus Massivholzplatten in Fichte. Als Spezialisten in Sachen Konstruktion und Ausführung standen den Architekten die Holzbauingenieure von Timbatec aus Zürich sowie das Holzbauunternehmen Häring AG aus Eiken zur Seite.
In der Aussenansicht ist die Holzkonstruktion als solche nicht sichtbar, innen aber schon. Die Decken sind weiss, die Wände in einem hellen Grauton lasiert. So bleibt die Struktur des Materials ablesbar, was zum wohnlichen Raumeindruck beiträgt. Die zwölf Zentimeter dicken Brettsperrholzwände sind tragend und leiten die Lasten jeweils auf die unteren Geschosse ab. Um zu vermeiden, dass dort, wo eine Wand auf einer Geschossdecke aufliegt, das Holz zusammengedrückt wird – also Querholzpressungen entstehen –, werden die Lasten über Buchendübel abgetragen. Sechs Zentimeter Durchmesser haben diese.
Ein Mock-up zur Anschauung
Da es bezüglich einer solchen Konstruktionsweise mit Dübelverbindungen bis anhin noch wenig Erfahrungswerte gab, haben sich die Architekten und die Holzbauingenieure dazu entschieden, an der ETH ein Mock-up im Massstab 1:1 zu bauen. Anhand dessen wurde vor allem geprüft, wie sich die Schallübertragung im Bereich der Dübel und somit von Wohnung zu Wohnung verhält. Den gesetzlichen Anforderungen an den Schallschutz musste schliesslich auch bei diesem Experiment Rechnung getragen werden. Aber nicht nur innerhalb des Gebäudes galt es, den Schallschutz sicherzustellen. Auch hinsichtlich des Aussenlärms musste entsprechend gehandelt werden, da die Stampfenbachstrasse stark befahren ist. Um das Gebäude akustisch von der Aussenwelt möglichst gut abzuschotten, ist die Fassadenwand aus Brettsperrholz mit einer schalltechnisch entkoppelten Aussendämmung versehen, die als Vorsatzschale fungiert.
Das Mock-up wurde aber nicht nur erstellt, um die Gebäudekonstruktion im Vorfeld zu testen, sondern auch die drehbaren Elemente. Potenziell stark beansprucht, müssen sie viel aushalten können und sollten in der Handhabung gut funktionieren. Wie und wie oft künftige Bewohner die schwenk- und drehbaren Raumelemente nutzen, wurde dabei im Mock-up auf dem Hönggerberg im Langzeittest untersucht. Über eineinhalb Jahre lang wurde das Testgebäude von verschiedenen Probanden je eine Woche bewohnt – von Studenten bis zu Rentnern –, um dabei zu ergründen, wie unterschiedliche Nutzergruppen mit dem flexiblen Raumangebot umgehen. Sensoren, die in die beweglichen Bauteile integrierte ware, gaben darüber Aufschluss, wie häufig und wie stark die Elemente bewegt wurden.
Ob sich das flexible Wohnkonzept auf kleinem Raum bewährt? Oder ob es eine Spielerei bleibt? Das wird sich wohl erst im Laufe der Zeit zeigen. Skeptisch hinterfragt wird es sicherlich schon jetzt. Aber egal wie das Experiment im Langstreckentest abschneidet: Einen Denkanstoss, unsere Wohngewohnheiten zu hinterfragen, gibt es allemal.
timbatec.com
haring.ch
performatives-haus.ch
Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten
Ron Edelaar (*1976), Elli Mosayebi (*1977) und Christian Inderbitzin (*1977) gründeten 2004 ihr gemeinsames Architekturbüro in Zürich. Ron Edelaar ist seit 2020 Dozent für Konstruktives Entwerfen an der ZHAW Winterthur, Elli Mosayebi seit 2018 Professorin für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich und Christian Inderbitzin seit 2020 Professor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). emi-architekten.ch
Das Projekt – die Fakten
Objekt: Wohnhaus «Performatives Haus»
Standort: Stampfenbachstrasse 131, Zürich
Bauherrschaft: UTO Real Estate Management AG, Zürich
Planungs- und Bauzeit: 2018–2022
Geschossfläche (anrechenbar): 1552 m2
Gebäudevolumen (SIA 416): 7550 m3
Architektur: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten AG, Zürich
(Associate: Christian Franke; Projektleitung: Michael Brotzer, Lukas Burkhart, Fabian Lauener; Bauleitung: Michael Brotzer, Fabian Lauener; Architekt: Nicolas Cuénod, Andreas Monn)
Holzbauingenieur: Timbatec Holzbauingenieure Schweiz AG, Zürich
Holzbau: Häring AG, Eiken (AG)
Konstruktion und Holz: vorfabrizierter Tafelbau mit Brettschichtholz aus Fichte
Schreinerarbeiten: Nilo Schreinerei Küchenbau AG, Wettingen (AG)
Baukosten: CHF 7,56 Mio.