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WELT.WEIT

Vorbild: Seeigel

Der neue Forschungsbau der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg lehnt sich in seiner Bauweise an das Plattenskelett von Seeigeln an. Hier bestehen die Segmentschalen allerdings aus Hohlkassetten in Leichtbauweise.

Text PD; sli | Fotos Conné van d’Grachten (ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart) | Plan ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart

 

Das neue Forschungsgebäude – «livMatS Biomimetic Shell» genannt – bildet eine Erweiterung des Freiburger Zentrums für interaktive Werkstoffe und bioinspirierte Technologien der Albert-
Ludwigs-Universität Freiburg. Bei dem Bau handelt es sich um eine auf biologischen Kons­truktionsprinzipien basierende Holzleichtbauweise, die den ökologischen Fussabdruck über den gesamten Lebenszyklus im Vergleich zu einer herkömmlichen Holzkons­truktion um rund 50 Prozent reduziert. Die besonders ressourcenschonende, vollständig rückbaufähige und wiederverwendbare Holzsegmentschalenkonstruktion wurde durch computerbasierte Planungsmethoden, eine robotische Vorfertigung und automatisierte Bauprozesse ermöglicht. In die Holzschale eingelassen ist ein grossflächiges Oberlicht («Solar Gate»), das durch eine biomimetische (also biologische Prozesse nachahmende) Verschattungsstruktur zur Regulierung des Innenraumklimas beiträgt.

Der Entwurf der Gebäudehülle basiert auf morphologischen Prinzipien des Plattenskeletts von Seeigeln. Diese werden seit über zehn Jahren am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baukonstruktion (ICD) und dem Institut für Tragkonstruktion und konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart erforscht. Für das Projekt wurde die Segmentschalenbauweise als hochdämmende Struktur für eine ganzjährige und dauerhafte Nutzung weiterentwickelt. Das innovative Holzbausystem überspannt hierbei eine Grundfläche von 200 Quadratmetern und besteht aus 127 unterschiedlichen Hohlkassetten, die über Kreuzverschraubungen zusammengefügt werden. Im montierten Zustand wirkt die Holzschale durch ihre gekrümmte Geometrie als formaktives Flächentragwerk. Dieses erreicht eine stützenfreie Spannweite von 16 Metern bei einem Gewicht von nur 27 Kilogramm pro Qua­dratmeter Schalenfläche. Das Bauprinzip sieht vor, dass die gesamte Baustruktur als solche wiederverwendbar ist beziehungsweise die baulichen Bestandteile sortenrein trennbar bleiben.

Die Hohlkassetten bestehen aus einer äusseren und inneren Decklage aus Dreischichtplatten sowie umlaufenden Randbalken aus Brettschichtholz, die zu Modulen zusammengesetzt wurden. Der Mehraufwand bei der Planung und Ausführung, der mit dieser lastangepassten und geometrisch ausdifferenzierten Konstruktion einhergeht und diese normalerweise unwirtschaftlich werden lässt, konnte durch die besagte computer­basierte Planungsmethode, die robotische Fertigung und die automatisierte Montage kompensiert werden. Das trägt zur erheb­lichen Reduktion des Ressourcenverbrauchs und des ökologischen Fussabdrucks bei.

Der Standort und die Ausrichtung des Gebäudes auf dem Grundstück wurden so gewählt, dass die umliegenden Bauten an Winter­tagen wenig bis gar keinen Schatten auf das Gebäude werfen. So können die solaren Gewinne durch das grossflächige, nach Süden ausgerichtet Oberlicht genutzt werden. Die Holzschale selbst ist mit Holzweichfaserdämmung ausgestattet. Eine thermisch aktivierte Bodenplatte aus Recyclingbeton, die mit niedrigen Vorlauftemperaturen aus lokaler Geothermie arbeitet, stellt in den Wintermonaten die Wärme für ein angenehmes Raumklima.

Das Herzstück der Vorfertigung ist eine neu entwickelte und transportable Sieben-­Achs-Roboterplattform. Die zwölf Meter lange Robotereinheit ermöglicht die gleichzeitige Fertigung von vier Bauteilen mit Längen von bis zu 3,5 Metern. Die individuellen Hohlkassetten wurden vom Schwerlastroboter aus einzelnen, digital vorformatierten Holzteilen zusammengefügt, geklebt und in einem weiteren Schritt gefräst, gebohrt und dann passgenau mittels Sägeblatt abgebunden.
icd.uni-stuttgart.de

Das Projekt – die Fakten

Projekt: Forschungsbau (livMatS Biomimetic Shell), Freiburg (DE)
Projektteam: Exzellenzcluster IntCDC (Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur, Universität Stuttgart); ICD Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung; ITKE Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen; Exzellenzcluster LivMatS
(Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems, Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg); Müllerblaustein Bauwerke GmbH, Blaustein (DE)
Gebäudegrösse: 16,5 m × 15,5 m × 10 m
Nutzfläche: ca. 200 m2
Konstruktion (tragende Schale): robotisch vorgefertigte Hohlkassettensegmente
Holz: Dreischichtplatten und Randbalken aus Fichte (tragende Schale); Dreischichtplatten aus Lärche (Vorsatzschale)

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